Ich studiere Kunsttherapie.

Kunsttherapie bedeutet sich auf etwas einzulassen, Erfahrungen zu machen und sich dabei Lösungswege zu erschließen.

Durch das Einlassen auf Dinge, die unbekannt oder ungewohnt sind, können sich auf einfachste Art und Weise Lösungswege aufzeigen, auf die man sonst nie gekommen wäre.

Ich habe mich schon immer auf Erfahrungen eingelassen, die ungewöhnlich waren. Ich habe im Alter von 17 Jahren meine Sommerferien „geopfert“ um freiwillig bei einer Organisation in Südafrika zu arbeiten. Ich bin im Winter bei Regen und Wind am Strand Eis essen gegangen. Ich habe eine WG mit einem Typen angefangen, den ich bei einer Mitfahrgelegenheit kennengelernt habe und der mir dann einen Job angeboten hat und somit nicht nur mein Mitbewohner, sondern auch mein Chef war. Ich besuche einen Freund und seien Familie in Paraguay, den ich seit 10 Jahren nicht gesehen habe; ich spreche kein Spanisch.

Nun arbeite ich im Kindergarten, was oftmals nicht weniger abenteuerlich ist. Mir wurde erzählt, der Vater eines unserer Mädchen sei Lotse; früher war er Schlepperkapitän. Natürlich habe ich ihn sofort darauf angesprochen und gesagt: „ich will mitfahren!“

Anderthalb Jahre später. Mittlerweile hat sich eine Freundschaft zu der Familie entwickelt. Spontan, an meinem vorletzten Urlaubstag, ergibt es sich: Der Lotse hat Kontakt zu seinem früheren Matrosen aufgenommen, der seinerseits mittlerweile Schlepperkapitän ist. Eins der größten Containerschiffe der Welt muss in den Hafen gebracht werden. Und ich darf mit.

Leichte Panik macht sich breit.

Egal. Los geht’s.

Immer wieder befinde ich mich zwischen den Welten. Ich arbeite in einer Frauendomäne. Schiffe und so, das ist eine absolute Männerdomäne. Ich freue mich ja schon so extrem über Kleinigkeiten – mir wird genug Vertrauen entgegengebracht, dass mir der Zugangscode des Tors zum Anleger, an dem die Schlepper liegen, verraten wird. Von rauem Umgangston ist nichts zu merken. Ich werde sehr freundlich in Empfang genommen, mir wird das Schiff gezeigt, ich darf mir alles angucken. Als es losgeht, darf ich sogar das Steuer in die Hand nehmen und immer schön geradeaus fahren.

  1. Halte die Augen auf dem Horizont.

Wie in der Fahrschule damals, fordert auch das Schiff lenken für den Anfänger einiges an Konzentration. Aber: Während ich die Augen auf den Horizont richte, wird alles andere unwichtig. Das Wasser liegt seicht vor mir. Die Aufregung verfliegt. Ich werde ruhig.

  1. Kindergarten und Schifffahrt haben auch Gemeinsamkeiten.

An Bord wird entweder Kaffee oder Wasser getrunken. Wie bei uns im Kindergarten. ????

  1. Jedes Berufsfeld hat seine eigenen Regeln.

Der Lotse, der alles eingefädelt hat, kommt uns auf einem Tanker entgegen. Es wird gehupt, wir drehen eine Pirouette, alle winken. ALLE. Der Moment gehört mir und ich fühle mich so unglaublich besonders. Wie ein Ehrengast auf dem Wasser.

  1. Das Leben ist voller Überraschungen.

Das Seil ist festgemacht, wir fahren dem Containerriesen hinterher. Ich erkenne einen Basketballkorb und der Ball fliegt wieder und wieder darauf zu. Die Filipinos spielen, um die Wartezeit zu verkürzen. Wer hätte gedacht, dass auf einem Containerschiff Platz und Zeit zum Basketballspielen ist? Ich nicht.

  1. Teamarbeit.

Kapitän, Maschinist, Matrose. Ich sitze mit allen dreien zusammen auf der Brücke und beobachte. Jeder von ihnen weiß genau, was zu tun ist. Ich mag den Umgang, den die drei miteinander haben. Sie leben immer zwei Wochen am Stück auf engem Raum miteinander und arbeiten zusammen. Sie sind total entspannt im Umgang miteinander. Jeder geht über das normale Maß dessen, was er eigentlich tun müsste, hinaus. Während der Kapitän steuert, kümmert der Maschinist sich darum, dass das Seil ausgefahren wird. Wortlos.

  1. Kleines Seil, große Wirkung.

Zunächst ist das Seil zwischen Schlepper und Containerschiff nicht stramm. Der Kapitän erklärt, dass wir sonst wie ein Ruder für den Riesen wären und das ist zu diesem Zeitpunkt nicht gewollt. Irgendwie hat das Gemeinsamkeiten mit meinen Kindern. Sie dürfen mir gern hinterherlaufen, aber ans Bein klammern dann bitte doch lieber nicht.

  1. Pssssst!

Wir unterhalten uns über dies und jenes. Doch sobald etwas über den Funk gesagt wird, sind alle still. Auch wenn die Stimmung super ist, alle sind konzentriert. In diesen Momenten liegt eine Atmosphäre von Autorität und Unterordnung. Natürlich, Ordnung muss sein, aber irgendwie imponiert mir das doch. Wenn der Kapitän die meiste Zeit freundschaftlich wirkt, in diesen Momenten strahlt er Souveränität und Stärke aus. Ich fühle mich sicher. Auch wenn der Moment mit mir gar nichts zu tun hat.

  1. Lass sich andere um Gaffer kümmern.

Ein Schlauchboot kommt auf uns zu, während das Containerschiff gedreht wird. Die Wasserschutzpolizei fährt auf es zu und fordert es auf sich zu entfernen. Wie oft lasse ich mich von dem ablenken, was Wesentlich ist, und kümmere mich um Unwichtiges, was eigentlich sogar andere von mir fernhalten könnten?

  1. Dreh den Spieß um.

Den ganzen langen Abschnitt, dessen Aussicht ich auf dem Hinweg so genossen habe, fahren wir hinter dem Containerschiff her. So interessant das Ganze auch ist, das Ding versperrt die Sicht. Irgendwann ist unsere Zeit gekommen. Wir drehen das Schiff um, und statt hinterher zu fahren, ziehen wir es nun rückwärts. Ja, es hilft auch mit. Aber trotzdem. Statt sich auf den Berg vor einem zu konzentrieren, hilft es im richtigen Leben vielleicht einfach mal eine andere Richtung einzuschlagen.

  1. Teamarbeit II.

Fast geschafft. Nun arbeiten drei Schlepper daran, den Riesen in die Parklücke zu stupsen. Es ist einfach faszinierend, dass diese drei kleinen Schiffchen das große so akkurat dorthin transportieren können, wo es hingehört. Aber irgendwie nicht überraschend. So wie die Zusammenarbeit an Bord klappt, funktioniert sie auch im Größeren – im Zusammenspiel mit den anderen Schiffen.

  1. Begleiter aus der Luft

Die Möwen schwirren um uns alle her. Sie scheinen im aufgewirbelten Wasser zu baden. Warum nur? Naja, da, wo es etwas zu gucken gibt, versammeln sich ja immer alle.

  1. Der Blick über den eigenen Tellerrand.

Ob es mir gefallen hat? Was für eine Frage! Natürlich! „Das alles, damit ich Bananen essen kann.“ Und vieles mehr. Aber mal im Ernst, wer denkt schon mal gründlich darüber nach, was alles daran hängt, dass wir Lebensmittel und Kleidung in den Läden haben? Dieser Trip lässt mich wieder sehen, dass es im Leben so viele Dimensionen gibt, die mir nicht bewusst sind – aus dem einfachen Grund, dass ich keinen blassen Schimmer habe, dass es sie überhaupt gibt.

  1. Freundschaft.

Vor meinem Urlaub hatte ich dem Lotsen gesagt, dass ich nun zwei Wochen Zeit zum Schlepperfahren hätte. Er erwidert: „Ich kümmere mich drum.“ Es dauert. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Und dann doch. Er hat alles eingefädelt. Er fragt später nach, ob alles geregelt ist. Er gibt mir einen Tipp für ein kleines Geschenk für den Kapitän als Dankeschön. Hinterher ruft er an und fragt, wie es gelaufen ist. Und er bietet an, nochmal eine Mitfahrt zu organisieren.

Bei meinem ersten Besuch dort, bei seiner Familie zu Hause, hat er mich hinterher nach Hause gebracht. Seine Idee. Er fährt auch einen Umweg, um mich nach dem Vater-Kind-Zelten zum Bahnhof zu bringen. Er initiiert alles und kümmert sich drum, hält sein Wort und hat seine Mitmenschen im Blick.

Ich bin total dankbar dafür.
Und ich frage mich, ob diese beiden Welten, Männerdomäne und Frauendomäne, nicht auch dafür sorgen, dass Rollen noch klar sind. Gleichbehandlung hat irgendwie oft etwas von schlechter Behandlung. Rollenverteilung assoziiere ich immer mit Respekt dem anderen gegenüber. Irgendwie liegt darin so viel Freiheit.

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